Wissenschaftsakademie Berlin



Dia-Vortrag "Brutalismus: Architektur gestern. Brutalistische Architektur, Euphorischer Sozialwohnungsbau, Gewalt gegen Architektur im genannten Kontext", 17.11.2000. Seminarleiter: Jesko Fezer (HdK, pro qm)





Brutalismus: Architektur gestern


26 West 58 Street, Manhattan. Der Architekt Paul Rudolph verliess als letzter das Büro. Es wurde nicht mehr ausgefegt, denn das Gebäude sollte in der folgenden Woche abgerissen werden. Das 6-stöckige leicht gotisierend dekorierte Haus, in dessen Obergeschossen Paul Rudolph sein Büro betrieben hatte, musste Platz für einen Neubau machen, der erst fünf Jahre später 1974 fertiggestellt werden sollte, denn der Bauherr Sheldon Solow nahm sich viel Zeit, auf Qualität beim Bau zu achten. Vor einiger Zeit schlug diesem ein Broker vor, vierzehn benachbarte Grundstücke an der 57th West und 58th West zu kaufen. Um die Preise niedrig zu halten, erwarb er Stück für Stück die einzelnen Parzellen, ohne Hoffnung auf Spekulationsgewinne bei den Eigentümern aufkommen zu lassen. Herr Solow liess dies über Mittelsmänner tun, um die Tatsache zu verbergen, dass hier ein grosser Developer am Werk war. Für 12 Million Dollar erwarb er ein zusammenhängendes Gebiet und konnte 1969 mit den Abrissen beginnen. Seit einem Jahr war das grosse amerikanische Büro Skidmore, Owings und Merrill mit der Planung beauftragt und ihr Starentwerfer Gordon Bunshaft entwickelte Pläne für ein knapp 50-geschossiges Bürohochhaus an dieser Stelle.

Rudolph stieg aus seinem Dachatelier mit einigen Modellresten unter den Armen, hinunter in die Zeichenräume. Die über drei Geschosse in einer spiralförmigen Drehbewegung organisierten Räumlichkeiten waren sehr hell und um einen durchgehenden vertikalen Lichtraum organisiert. Das grosse Efeu, das an der Brüstung wucherte, war verwelkt. Keiner wollte oder konnte es mitnehmen. Die Stellen, an denen fünf Jahre lang die Tusche-Präsentationszeichnugen gehangen hatten, waren als weisse Rechtecke vor der vergilbten Wand sichtbar. An der Wand hinter dem Platz der Empfangsdamen hing seit Beginn der Büronutzung die bekannte Schnittzeichnung des Gebäudes der Yale Architekturabteilung. Die Komplexität der vertikalen Schichtung des Universitätsgebäudes war auch in seinem Büro erfahrbar gewesen. Die Zeichner sassen teilweise direkt über den Köpfen ihrer Kollegen auf Plattformen, mussten über Brücken gehen oder übereinander steigen, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Das Durcheinander wurde ergänzt durch grosse Modellplatten und aufgehängte Zeichnungen die so weitere Wände, Böden und Deckenebenen einführten. Der Raum war mit unzähligen Pflanzen vollgestellt, die ihre Triebe in alle Richtungen führten und das Klingeln der Telefone, das Tackern der Schreibmaschinen, die Gespräche, tagsüber das Sonnenlicht und nachts das Neonlicht filterten. Die Enge und Verschachtelung schienen Rudolph einer kreativen Atmosphäre dienlich, auch wenn behauptet wurde, die verwirrende räumliche Struktur wäre erdacht, um potentielle Kunden zu irritieren und „vor dem Meister (Herrn Rudolph) in Nachteil zu setzen.“ Das Büro war für ihn ein kleines Yale gewesen.

1957 wurde Rudolph mit 38 Jahren Vorsitzender der Yale Architekturabteilung, einer der bedeutendsten Architekturhochschulen der Welt. Für den damals anstehenden Neubau der Kunst- und Architekturfakultät bemühte er sich anfangs, Le Corbusier zu gewinnen. Bald stieg er jedoch selbst in die Planungen ein und vollendete 1964 ein eigentlich 7-stöckiges Gebäude in dem er selbst jedoch über 30 verschiedene Deckenhöhen zählte.
Im Büro war es sehr still. Viele Dinge, die jahrelang in allen Ebenen des Raums ihren Ort gefunden hatten, lagen nun als Abfall auf dem Boden. Es war, wie wenn die Schwerkraft zurückgekehrt wäre. Er hatte aus sentimentalen Gründen die Modellteile aus dem aufgehäuften Schutt gefischt. Auch ein Bruchstück Beton war dabei. Dieses Stück hatte er bei seinem freiwilligen Abgang aus Yale mitgenommen. Es war ein beim Bau abgefallenes Stück der Betonfassade. Jüngere Mitarbeiter hatten dem Brocken wohl beim Aufräumen wenig Bedeutung zu gemessen. Was aussah wie Bauabfall, war Teil einer aufwendigst hergestellten Fassade, die sein Markenzeichen geworden war. Für Yale hatte Rudolph eine Schalungsmethode entwickelt, mit der er die Sichtbetonflächen vertikal strukturierte. Schon früher hatte er trendgerecht schalungsrau betoniert und in Corbusierscher Manier „beton brut“ zur Schau gestellt, doch damals in Yale perfektionierte er das Verfahren durch Einlegen von Latten mit trapezförmigem Querschnitt in die Schalung. Die Kanten der so vertikal geriffelten Oberfläche wurde nachträglich mit dem Hammer gebrochen. So entstand eine rohere, im Detail verwüstete Form, die aber durch die aufwendige Handarbeit wie veredelt war. Diese Strukturierung entsprach im optischen Eindruck auch den Schattierungen seiner Tuschezeichnungen. So gelang es Rudolph seine Gebäude noch exakter seinen Zeichnungen entsprechen zu lassen.

Vorige Woche in der Nacht zum 14. Juni hatte es im Yale Art + Architecture Building gebrannt. Es gab dort einen Brandanschlag im Zusammenhang mit den seit Monaten landesweit stattfindenden Studentenunruhen. Rudolph war 51 und hatte selbst die Hochschule vor Jahren verlassen, weil er zu sehen glaubte, wie ihn der Posten in Yale "sozusagen zum Mitglied des Establishments" gemacht hatte. Aber die Ausbrüche von Gewalt ängstigten ihn. Der Anschlag war noch nicht aufgeklärt. Die Polizei verhörte täglich Studenten. Da niemand zu Schaden gekommen war, lag der Eindruck nahe, es ginge um das Gebäude als Symbol. Obwohl das Feuer offensichtlich politische Ursachen hatte, wurde es in den Medien immer auch als Ausdruck einer brodelnden Unzufriedenheit mit der Gestalt des Bauwerkes gewertet. Man sprach von einem wahrnehmbaren Bedrängnis. Es wurde vermutet, dass die Architektur "Ansprüche an die individuellen Besucher stellt, denen nicht jede Psyche begegnen konnte". Rudolph spürte, wie sich die Wahrnehmung seines Gebäudes veränderte. Die russgeschwärzten Betonoberflächen, die in den Zeitungen abgebildet waren, hatten nichts von ihrer ursprünglichen edlen Derbheit. Die liebevollen archäologischen Fundstücke und Intarsien, wie Muscheln, die in den Beton eingebracht waren, fielen dem Raster der Druckmaschinen und TV-Bilder zum Opfer, und die aufgehängten Transportnetze und orange pile rugs, die das Licht, das durch die Fenster fiel, dämpften und mit ihrem Schattenspiel den Raum belebten, waren verbrannt. Was man sah, liess den unterstellten Zusammenhang zwischen dem monumentalen Gebäude und dem Ausbruch von Gewalt vor Ort plausibel erscheinen. Ihm dem U.S. Champion des Brutalismus als Style, wurde Brutalität als Planer vorgeworfen. Der Brand in Yale markierte sein Bauwerk als Feindbild einer ganzen Generation.
Das Gebäude wurde später sehr lieblos wieder instand gesetzt, so dass sich Rudolph bald davon distanzieren würde bis er irgendwann die Autorenschaft ganz ablegte. „This building no longer exists for me“.
Er warf das Betonstück durch das geschlossene Fenster auf die 57th Avenue. Sofort riss er das zersprungene Fenster auf und beugte sich hinaus, um nachzusehen, ob er grösseren Schaden angerichtet hatte. Er befürchtete, es sei jemand zu verletzt worden. Doch das Bauteil war mitten auf der Strasse aufgeschlagen. Seine Mitarbeiter und einige Transporteure blickten ihn erstaunt an, und er versuchte, durch Gesten mit den Armen den Eindruck zu vermitteln, das Betonteil sei ihm versehentlich aus dem Fenster gefallen. Rasch verliess er das Büro und betrat den bereitstehenden Aufzug. Er war über sich selbst erschrocken, denn er betrachtete sich als kontrollierten Menschen.
Es war ein anstrengender Tag gewesen, wie die ganzen letzten Wochen. Die Ausbauarbeiten im neuen, etwas konventionelleren Büro, 54 West fifty-seventh Street, waren immer noch nicht ganz abgeschlossen. So konnten sie nicht effektiv arbeiten und bekamen Schwierigkeiten mit Abgabeterminen. Rudolph fuhr sich durchs Haar als er im Aufzug in den Spiegel sah. Er trug nun seit seiner Zeit bei der Marine diesen Militär-Kurzhaarschnitt. Er strich über seinen dunklen gemusterten Anzug aus kräftiger Schurwolle und zupfte seine diagonal gestreifte Seidenkrawatte zurecht . Für einen proviniziellen Südstaatler war er weit gekommen. Doch heute merkte er, dass es ihn demütigte, dass er nicht mehr so stark war. Es war eben nicht irgendein Büro gewesen. Es war das bekannteste zu dieser Zeit.
Nachdem er die Modellreste auf den Transporter geladen hatte, stieg er in ein Taxi und liess sich in seine Wohnung, 23 Beckman Place, bringen. In der kleinen Diele der von ihm umgestalteten Wohnung hängte er sein Jackett auf und legte seine Aktentasche und den Schlüssel auf die Ablage. Er war durstig und ein wenig verschwitzt. Zuvor im Taxi wollte er wegen des Staubs das Fenster nicht öffnen. In der Küche füllte er sich Leitungswasser in ein Glas und trank es hastig aus.
Auf die Küchenwände hatte er eine Collage aus Werbe-Plakaten von Ölfirmen angebracht, während das Wohnzimmer komplett weiss in weiss war. Dort hatte er verschiedene freikragende fliessende Plattformen mit eingebauter verdeckter Beleuchtung mit speziell entworfenen Leder-Club-Chairs, Gipsabdrücken von Schmuckplatten von Louis Sullivan und einem Glas-Esstisch mit Stühlen aus gebogenen Draht, wie sie in Eiskaffees stehen könnten, kombiniert. Von hier aus konnte er auf den East River schauen, und wenn er wollte, durch eine Türe in der vollverglasten Fassade auf einem brückenähnlichen weitauskragenden Balkon aus einem Stahlgerüst treten. Die in der oberen Zimmerecke die Fassade durchstossende Klimaanlage griff gemeinsam mit einem von ihm angebrachten Bücherboard an der Stelle des Übergangs von der Decke zum Fenster die Komplexität der Sitz- und Abstellflächen auf. Ein Wandvorsprung an dieser Stelle, verschiedene Pflanzen, ein Vorhang aus Plastik-Pailletten und ein eigenartig flauschiges Hängeobjekt aus Gaze, das eine Lampe hätte sein können, vervollständigten die Rudolphsche Komplexität. Herr Rudolph nahm sich die Zeitschrift, eine alte Ausgabe von Architectural Forum von 1962, die er heute morgen aus dem Regal gezogen hatte, und seine runde schwarze Lesebrille aus Plastik vom Tisch und ging ins Schlafzimmer. Obwohl es am frühen Abend noch sehr hell war, zog er die Schuhe aus und warf sich ermattet in die Schlaflandschaft mit dem langflorigen Teppich. Er blätterte in dem Magazin auf der Suche nach dem Artikel über die Wohnung des Gordon Bunshaft, dem besagten Architekten bei S.O.M., wegen dessen ehrgeiziger Neubaupläne sein geliebtes Büro geräumt werden musste. Mit seinem Kopf lag Rudolph zwischen den in eine Ablage integrierten Lautsprecherboxen unter einem Ausschnitt aus einer Grossreklametafel, die attraktive junge, kaum bekleidete Damen zeigte, die sich an einen auf der Brust üppig behaarten jungen Mann kuschelten. So liegend, konnte er sich in der gegenüberliegenden komplett verspiegelten Wand sehen. Er wirkte wie integriert in dieses sexuell anspielungsreiche Gruppenbild. Sein Blick fiel auf den Vorhang aus diesen Transportnetzen, die er auch in Yale verwandt hatte. Davor ein Nachguss einer knabenhaften antiken Büste. Er weinte ein bisschen.

Gordon Bunshaft wohnte im „Manhattan House“, das von diesem selbst für S.O.M. geplant und 1950 fertiggestellt wurde. „Architectural Forum“ hob heraus, wie Bunschaft 1956 die ohnehin schon moderne nüchterne Wohnung beim Einzug radikal renoviert hatte. Er hatte für seine Frau Nina und sich einen Travertin Fussboden eingebracht, auf dem nun marokkanische Teppiche lagen. Neu waren auch die Verblendungen für die Deckenbeleuchtungen. Da Bunshaft Kunstsammler war, war das Wohnzimmer mit Bildern von Miro, Léger, Dubuffet, Picasso und Skulpturen von Calder, Giacometti, Moore sowie Werken primitiver Kunst aus Afrika und Polynesien ausgestattet. Auf dem Foto erkannte Rudolph zwei der raren ersten Barcelona Chairs, die in USA produziert wurden, Stahlrohr-Essstühle von Marcel Breuer und ein Sofa von Florence Knoll. Zwei lange Vitrinen, die Bunshaft selbst gestaltet hatte, fielen Rudolph auf. Eine war vor die Wand gesetzt währen eine weitere frei im Raum von unten ins Bild ragte. Die weisse Marmor-Oberfläche mit dezent grauer Aderung sass auf spiegelglänzenden Edelstahl Rahmen, die schwarze Formica-Tafeln mit einer seidigen Oberfläche aufnahmen. Herr Rudolph fand dies, wie auch der Autor, alles sehr geschmackvoll. Er betrachtete auch die eigenartigen Dinge, die auf dem Esstisch angerichtet waren: Seltsame Käsesorten, die teilweise wie Creme-Torten, teilweise wie Schokoladentafeln aussahen, und auf dem Teller eine Birne mit Messer und Gabel, ein halbvolles und ein fast leeres Weinglas und 4 Zigaretten in einem Schnapsglas.

Rudolph ging davon aus, dass weder der Brandanschlag in Yale, noch der Abriss des Gebäudes, in dessen Obergeschossen sein berühmtes Büro gearbeitet hatte, sich direkt gegen seine Person oder seine Architektur richteten. Doch es schien ihm heute möglich, einen Zusammenhang zu konstruieren. Er erinnerte sich: Die Angriffe begannen schon früher. Kaum war Yale Art + Architecture fertiggestellt, suchte es sich der später weltbekannte Robert Venturi als Paradebeispiel aus, um seine Kritik an der Moderne und am Internationalen Stil zu veranschaulichen. Venturi, der ebenfalls zum Lehrkörper in Yale gehörte, hatte ebendieses Gebäude erwählt, weil der Campus von Yale im Zentrum der Fachöffentlichkeit stand, das Gebäude selbst einer breiten Öffentlichkeit über die Medien bekannt war und Rudolph der Dekan einer der wichtigsten Architekturschulen der USA gewesen war. Venturi sah in dem Gebäude ein „artistisches Wunderwerk der Geometrie“, und das meinte er abwertend.

Auch der Architekt Louis Kahn war damals nicht sonderlich erfreut über die brutale Geste von Herrn Rudolph, der mit einem starken vertikalen Eck-Pfeiler seines Gebäudes auf dem ohnehin vorspringenden Bauplatz die horizontal gegliederte Abfolge der alten Art Gallery und Kahns berühmten Anbau von 1953 abrupt beendete.
Louis Kahns Gebäude wurde, noch bevor Rudolph in Yale ankam, nachträglich zum eigentlich ersten brutalistischen überhaupt ernannt. 1955 ordnete es der Chefredakteur der Londoner Architectural Review, Ian Mc Cullum, seitdem unwidersprochen, in den brutalistischen Kanon ein. Rudolph liebte dieses Gebäude, seinen axialen, formal klar gegliederten Grundriss, die offene Zurschaustellung der Konstruktion und der Baustoffe mit einer gewissen Verschiebung der Bewertung im Verhältnis zu beispielsweise Mies´scher Konstruktionsfanatik. Bei Kahn zeigte sich nach aussen, in der Hauptfassade, nicht die Stahlkonstruktion, sondern deutlich monumentalisierte sekundäre Elemente, wie Wände und Decken. Auch die starke Axialität des Gebäudes wird eher verborgen als hervorgehoben. Insgesamt erkannte Rudolph hier, wie in brutalistischen Zusammenhängen üblich, einen gewisser Anschein einer bewussten Missachtung der guten Sitten in der Architektur. Aufregend fand er damals auch die direkte „Ehrlichkeit“ Kahns, insbesonders im seiner Ansicht nach „offenen Eingeständnis seiner Unfähigkeit, eine bessere Art der Verkleidung der Fassade mit Glas zu entwickeln“. Nach Ansicht vieler Kritiker zeigte sich die Fassade zum Hof weit unter der Qualität des Restgebäudes. Wegweisend war natürlich insbesondere die inszenierte Sichtbarkeit der Schalungsspuren und Löcher der Befestigungsbolzen im runden inneren Erschliessungsturm. Das alles liebte er, hatte er oft betrachtet und angefasst. Er wollte und konnte eine Respektlosigkeit gegenüber dem deutlich älteren Louis Kahn, der ebenfalls Dozent in Yale gewesen war, nicht erkennen.

Rudolph erinnerte sich, als er das Foto Bunshafts in dem Architekturmagazin betrachtete, an einen von ihm 1960 veranstalteten kleinen eingeladenen Wettbewerb zum Neubau der Beinecke Rare Book and Manuscript Library in Yale. Gordon Bunshaft hatte damals die ihm zugekommene Einladung zur Teilnahme abgelehnt mit der Begründung, er zöge es vor, direkt mit dem Bauherren zu verhandeln, als irgendeiner Jury etwas vorzulegen. Er bat Rudolph, seine Position dem Universitäts-Vorstand persönlich vortragen zu dürfen. Rudolph lehnte wiederum ab und erklärte, dass es beschlossen sei, dass das Komitee den Architekten auswählen würde. Dennoch tauchten die Beinecke-Brüder, die die Bücher gestiftet hatten, und deren Frauen ebenfalls Schwestern waren, irgendwann in Bunshafts Büro auf, sprachen mit ihm und beauftragten dessen Firma Skidmore, Owings und Merrill mit dem Bau. Und auffallenderweise entwirft Bunschaft, der bis dahin besonders durch die Gestaltung von Glasquadern in internationalistisch moderner Manier hervortrat, hier wider die guten Sitten. Es gibt gar keine Fenster, sondern eine gerasterte Fläche, mit 8-eckigen dünnen Granitplatten, durch die das Licht dämmert.

Was Rudolph zusätzlich beunruhigte, als er sich so umzingelt sah, von Kollegen und der Fachöffentlichkeit, war die im gleichen Jahr stattfindende Planung von Louis Kahn am Yale Center for British Art auf dem umkämpften Campus. Rudolph hatte sein Art + Architecture Building, das in direkter Nähe steht, in Skizzen und Modellen einer Zwischenstufe des Kahn-Entwurfes publiziert gesehen. In diesen ist es durch eine geplante Fussgängerbrücke deutlich horizontal ausgestrichen. In späteren Varianten, ohne Brücke, sind ihm gar keine Fotos oder Zeichnungen in Richtung auf Rudolphs Gebäude bekannt. Die Brücke im Inneren von Rudolphs Yale Gebäude, die auf vielen Fotos eine wichtige Stelle einnimmt, wurde nach dem Brand im Architekturgebäude abgerissen und nie wieder eingebaut.

Obwohl Herr Rudolph das nicht wissen konnte, stellte er es sich genau so vor. Er konnte sich vieles sehr präzise vorstellen. Das war seine Meisterschaft, sich Zustände als Räume vorzustellen.
Sein ganzer Rücken war verspannt. Eine Massage würde ihm guttun, vielleicht morgen vor dem Büro. Er kreiste ein wenig mit den Schultern und streckte sich.
Dann stand er auf, ging zur gegenüberliegenden Wand und zertrat den grossen Wandspiegel. Durch die Scherben watete er in die Küche, um sich ein Wasserglas mit Wodka zu füllen. Er liess den Schnaps über den Rand laufen und verschüttete noch ein wenig beim Aufnehmen des Glases. Mit dem freien Arm wischte er über die palisander-furnierte Theke, weil er befürchtete, die Oberfläche würde sich noch weiter aufwerfen. Sein Hemd sog die klare Flüssigkeit in sich auf. Er setzte sich auf den Boden und trank einen Schluck. Die Fliessen waren unangenehm kalt. Lange würde er das nicht aushalten, konnte sich allerdings auch nicht vorstellen, so schnell wieder aufzustehen.








Teil 2





England

Nach dem 2. Weltkrieg kümmerte sich hier die Labour Regierung um den Wiederaufbau der Wirtschaft, der Städte und der Dörfer und die Etablierung eines nationalen Wohlfahrtsstaates. Die Frage, in welchem Stil die enormen Bauaufgaben zu lösen seien, stellte sich im Zusammenhang mit der Herausbildung einer gesamten englischen Nachkriegskultur.

Im Baubereich gab es zwei naheliegende Praktiken. Entweder wurden die Bauten in einer reduzierten neogeorgianischen Manier des Durchschnittsarchitekten oder im sogenannten modernen Stil ausgeführt. Dazu gehörten flach geneigte Dächer, Backsteinwände, vertikale Holzverschalungen, holzgerahmte fast quadratische Fenster, naturfarben oder weiss gestrichen, ungezwungene pittoreske Positionierung auf dem Gelände, Blumenkästen vor den Balkons und eine Tendenz, Details in Holz auszuarbeiten. Diese Richtung war höchst beliebt bei den linksorientierten Architekten Londons und wurde besonders verbreitet durch den damaligen Herausgeber des „Architectural Review“ Nikolaus Pevsner. Diese auf das menschliche Mass gebrachte Moderne wurde in England auch als „New Humanism“ propagiert. Hier wurde sich stark an den Schweden orientiert, die mit "New Empiricism" erfolgreich eine pittoreske Art der anti-rationellen Eigentümlichkeit bauten. Die Zeichnugen Gordon Cullens verbildlichen dies.

Die jüngeren Architekten wandten sich gegen den Empirismus des „New Humanism“. Vor dem Hintergrund der Erfahrung des Kriges, der entwickelten atomaren Vernichtungskraft und des gesellschaftspolitischen Chaos', verachteten sie die Anschmiegung des „peoples detailing“ an die Biederkeit der Gesellschaft. Die Hierarchien und Seilschaften der Architectural Association und des London Country Council taten ein Übriges, um Widerstand gegen die amtierende Generation aufkommen zu lassen. Das "New" des damals entstandenen Kampf-Begriffs „New Brutalism“ erklärt sich in diesem Kontext auch als Parodie auf „New Empiricism“ und „New Humanism“.

1956 wurde in „Architectural Review“ ein Brief veröffentlicht, den der schwedische Architekt Hans Asplund an seinen Kollegen Eric de Maré geschrieben hatte:
„Im Januar 1950 teilte ich die Büroräume mit meinen verehrten Kollegen Bengt Edman und Lennart Holm. Diese Architekten entwarfen damals ein Haus in Uppsala. Auf Grund ihrer Pläne nannte ich sie in leicht sarkastischer Weise „Neobrutalisten“. Im folgenden Sommer wurde der Ausdruck anlässlich einer Festlichkeit mit einigen englischen Freunden darunter Michael Ventris, Oliver Cox und Graeme Shankland, in scherzhafter Weise wieder erwähnt. Als ich die gleichen Freunde im vergangenen Jahr in London besuchte, erzählten sie mir, dass sie den Ausdruck nach England gebracht hätten, wo er sich wie ein Lauffeuer verbreitete, und dass – was einigermassen erstaunlich ist – eine Gruppe jüngerer englischer Architekten ihn sich angeeignet hätte.“

1950 zogen Alison und Peter Smithson nach London, arbeiteten in der Architekturabteilung des London Country Council und gewannen nach Feierabend überraschend den Wettbewerb für eine kleine Schule in Hunstanton, einer ruhigen Küstenstadt, die sie schlagartig ins Gespräch brachte.

Mies van der Rohe war es am Illinois Institute of Technology in Chicago in den späten 40er Jahren durch geschickte Auslegung der Feuerschutzregelungen gelungen, bei seinen Universitätsbauten den normalerweise hinter dem Feuerschutz liegenden Konstruktionsstahl als tätsächliches und sichtbares Skelett auszubilden. Auf dem Campus entstanden so diverse Schaustücke der verfeinerten Anwendung von Stahlkonstruktionen. Die Secondary School in Hunstanton 1949-1954 war eine sehr schlampige Variante von Mies'scher Architektur mit weniger klassischen Proportionen. Es entstand ein 88 auf 31 Meter grosser Gesamtbaukörper. An die zentrale Mehrzewckhalle schlossen sich zwei nichtbetretbare Lichthöfe an. Eine separate Sporthalle stand in geringer Entfernung zum Hauptkomplex. Auch Küche und Werkstätten waren ausgelagert. Die Fassade zeigte Glas, hellen Klinker und die Konstruktion aus Stahl-Standard-Elementen. Decken und Dachplatten bestehen aus Stahlbetonfertigelementen, die an der Unterseite in Sichtbeton belassen wurden. Die technischen Verpflichtungen wurden bewusst über geometrischen Formalismen gestellt. Auch innen zeigten die Wände den gleichen Backstein wie aussen. Es gab kein Verputz, selten Anstrich und die Versorgung war frei verlegt aber nicht „dramatisiert“. Da sich die Bauarbeiten wegen Stahlmangels auf Grund des Korea-Krieges über Jahre hinzogen, sahen die meisten zeitgenössischen Architekten das Gebäude in den verschiedenen Rohbauphasen. Auch die Fachzeitschriften bildeten es in diesem Zustand ab. Dies verstärkte sicher die Wahrnehmung als „brutalistisch“.

Überdies war Peter Smithson unter Freunden, wegen seiner angeblichen Ähnlichkeit mit römischen Büsten, unter dem Spitznamen „Brutus“ bekannt. Es wird berichtet, dass in Amerika die Studenten von Siegfried Gideon schon bald die Gleichung aufstellten: „Brutus + Alison = Brutalismus“.

Nur zur Sicherheit veröffentlichte Peter Smithson 1953 in Architectural Design den Satz: „Hätte man das gebaut, wäre es tatsächlich das erste Beispiel für den „New Brutalism“ in England geworden“

Dies stand im Erläuterungstext zu einem von den Smithsons entworfenen Wohnhaus in London. Beim Bau des 4-stöckigen Gebäudes aus Backstein, Beton und Holz sollte keine Farbe, kein Putz oder sonstige Oberflächenbehandlung eingesetzt werden. Es war als eine Kombination von Behausung und Umgebung gedacht, indem die Fassade nach innen den Raum begrenzte aber eben unverputzt auch eine Aussenfassade darstellte. So bekam das Zimmer Eigenschaften einer Strasse zugewiesen.

Die Smithsons besuchten 1954 die gerade fertiggestellte Unité d'Habitation in Marseille, dessen Beton Corbusier selbst als „Beton Brut“ bezeichnet hatte. Abends stieg auf dem Dach eine Party mit Musique Concrète und Jacques Cousteau zeigte einen Tauchfilm. Corbusiers Büro hatte die Fete organisiert, die ein Riesenskandal war und zugleich das krönende Moment des 9. CIAM darstellte.

Corbusier hat hier die Vorstellung aus der Vorkriegszeit aufgegeben, Stahlbeton wäre ein Präzisionswerkstoff. Diese Fiktion wurde in den 30er Jahren entweder durch Verputzen der rauhen Betonflächen oder durch extremen Schalungs-Aufwand und zusätzliche Spezialarbeit mühsam aufrecht erhalten. Le Corbusier entmythologisierte den Beton. Er verstand dies als eine romantische Offenlegung des Fertigungsprozesses. In Marseille drückten die Holzbretter der Schalung in sorgfältig geplanten Mustern ihre rauhe Oberfläche, die Maserung, ihre Astlöcher und Fehler in den Beton. Die jungen Engländer konnten hier erfahren, wie der Satz aus „Vers une Architecture“ sich anfuhlte: „L'Architecture c'est avec des matières brutes, etablier des rapports emouvants.“ - Architektur, das bedeutet, mit groben/rohen Materialien bewegende Gefühle zu erzeugen.

Auf dem internationalen Architekturkongress CIAM 9 1954 in Aix-en Provence, der Tagung, während der die Unité besucht wurde, findet sich nach besagter Party beim Kamelschinken-Essen in einer marokkanischen Bar in Marseille eine Gruppe junger Architekten zusammen, die sich beauftragen lässt, den 10. CIAM vorzubereiten. Sie nennen sich „Team 10“. Mit dabei waren Aldo van Eyck, die Smithsons, Jaap Bakema, Georges Candilis & Shadrach Woods Bauleiter der Unité, Giancarlo De Carlo, Ralf Erskine, Johne Voelcker und andere. Corbusier übergab die Führung generös, während sich andere um den Genaralsekretär Siegfried Gideon noch etwas wehrten, denn sie wussten, die jungen ArchitektInnen, die mit dem Jeep nach Aix gekommen waren, planten zielstrebig die Vernichtung des CIAM. Die Sonderausgabe des Amsterdamer Zeitschrift Forum, die van Eyck herausgab und zur Vorbereitung zu letzten CIAM in Otterlos herumschickte, zierte ein Kampfbomber.


Hof, Strasse, Wirklichkeit, Alltag
1955 erschien in "Architectural Design" das sogenannte „Manifest“ zum Problem. Der Chefredakteur des Hausblattes, der junge Engländer Theo Crosby, hatte die Smithsons gebeten, „als Verkünder dieser Richtung eine Definition oder Erklärung abzugeben“. Die Smithson stellen in dieser Erklärung fest, dass der "New Brutalism" zu diesem Zeitpunkt die einzige mögliche Weiterentwicklung der Moderne darstellte. Dies begründeten sie mit dem Auftreten der brutalistischen Bauweise beim Grossmeister Corbusier als Instanz und der Parallele zu den Ideen, die der japanische traditionellen Architektur zugrundeliegen. Sie betrachteten „die Architektur als unmittelbares Ergebnis einer Lebensweise.“

Diesen direkten Bezug zum Leben könnte man in dieser Phase der Entwicklung des Brutalismus als kennzeichenden Grundgedanken feststellen. Anhand einiger Projekte von Alison und Peter Smithson lässt sich dies darstellen.

Parallel of Life and Art
Die Austellung „Parallel of Life and Art“, die 1953 am Institute for Contemporary Art, London von P+A Smithson, dem Künstler und Fotografen Nigel Henderson und Eduardo Paolozzi veranstaltet wurde, zeigte „122 brutalistische Bilder“. Gezeigt waren Bilder aus Zeitschriften und Zeitungen, wissenschaftlichen und anthropologischen Lehrbüchern, Röntgenaufnahmen und Micrografien, anscheinend auch "menschliche Gewaltszenen", verzerrte Aufnahmen und z.B. ein Bild von Jackson Pollock 1950 vor einem Gemälde in seinem Atelier. Auffallend war die formale Erscheinung der übervergrösserten Abzüge auf mattes Fotopapier mit seiner Körnigkeit, in der eine Parallele zu den Strukturierungen der Motive lag. (vgl. Ausstellung „Growth and Form“, Mailand Triennale 1951 mit Henderson)

House of the Future
1956 errichteten die Smithsons für die jährliche Ausstellung „Ideal Homes“ der Zeitung "Daily Mail" in London einen Prototypen: das „House of the Future“. Doppelte Kunststoffhülle. Damals veröffentlichten die Smithsons in einer Studentenzeitschrift ihren berühmten Satz „today we collect ads“. „House of the Future“ ist eine Art Verräumlichung des Bildes des hinter den Werbeanzeigen für z.B. Küchengeräte liegenden sozialen Raumes und ästhetischen Versprechens. Die Cadillacs, der in London tätigen Nato-Würdenträger zu bewundern war damals eine deutlich anti-konformistische Haltung und Zeichen einer rebellischen Gesinnung. Der Cadillac spielt auch eine Rolle in Bezug auf Corbusiers Citrohan-Haus, das als Wortspiel mit der Automarke Citroen zu verstehen ist.
Der Grundriss orientierte sich an einem klassischen Atrium-Haus. Auffallenderweise verunmöglicht die Bauform allerdings den Einsatz von Universalelementen (wie bei Wachsmann oder Gropius u.a.). Sie erfordert vielmehr individuelle Einzelteile, die in der Produktion eine Massenhaftigkeit, wie in der Kfz-Produktion Autos benötigten, um rentabel hergestellt werden zu können.

This is Tomorrow, 1956, Whitechapel Gallery
Aus verschiedenen Gruppen, die in der Regel aus einem Maler, einem Bildhauer und einem Architekten bestanden" setzte sich "This is Tomorrow" zusammen. Der Organisator Lawrence Aloway schrieb im Vorwort: "In 'This is Tomorrow' ist der Besucher Raumeffekten ausgesetzt, einem Spiel von Zeichen und einer grossen Anzahl von Materialien und Strukturen, die in ihrer Gesamtheit aus Kunst und Architektur eine vielschichtige Aktivität bilden, ebenso wirklich und von Idealvorstellungen entfernt wie draussen die Strasse."
Neben dem bekannten "Fun house" von Voelker, Hamilton, Mc Hale, das die Strasse als populärkulturellen Raum der Musikautomaten, Reklamebilder und Zukunftsromane darstellte, erbauten die Smithsons gemeinsam mit Henderson und Paolozzi den sog. "Patio and Pavillion", ungefähr: "Hof und Hütte". Es ging um die Wohnung im erweiterten Sinne betrachtet als Lebensraum, genannt das Habitat: "... die erste Erfordernis (des menschlichen Habitat) ist ein Stück Welt, der Patio. Das zweite ist ein abgeschlossener Raum, der Pavillon."
Zu sehen war eine Baracke aus Holzlatten mit Wellplastikdach, von einer verspiegelten Wand umgeben, die einen Hof umgrenzte, auf dessen sandigem Boden verschiedene Gegenstände, Fundstücke, häuslicher Trödel, ein Spielzeugflugzeug und ein alter Fernseher arrangiert waren. Auch auf dem Dach des Schuppens lagen Gegenstände und im Inneren ein Fahrradrad, eine Bank, ein Bild von Paolozzi, ein Stein.
Der metaphorische Schuppen war eine Parodie auf Laugiers Urhütte von 1753 und bezog sich auf die Realität der Hinterhöfe von Bethnal Green, die in Hendersons Fotografien dokumentiert war. Banham erinnerte die Szenerie an eine Ausgrabungsstätte nach der atomaren Vernichtung, Kenneth Frampton sah eine zerbombte, kriegszerstörte Situation, in deren Trümmer sich aufkommender Konsumwohlstand einfügt.
Die Smithsons waren nicht bei der Eröffnung in London. Sie waren in Dubrovnik, bei dem von ihnen vorbereiteten 10 CIAM Kongress.

Haus Sugden in Watford 1956
Die Smithsons 1957 in AD: „Jede Diskussion über den Brutalismus wird am wesentlichen vorbeigehen, wenn nicht seinem Bemühen Rechnung getragen wird, die Wirklichkeit objektiv zu sehen – die kulturellen Aufgaben der Gesellschaft, ihre Impulse, ihre Methoden u.s.w. Der Brutalismus versucht, der Gesellschaft der Massenproduktion zu entsprechen und den verworrenen und starken Kräften, die am Werke sind, eine rauhe Poesie zu entreissen. Bisher ist der Brutalismus als Formproblem behandelt worden, während er in seinem Wesen ethisch ist“. Im selben Jahre wurde das Haus Sugden veröffentlicht. Die Smithsons sehen hier der Wirklichkeit ins Auge, wie englische Vorstadthäuser damals erbaut wurden: Unter Druck des einheimischen Symbolismus, ästhetischen Vorurteile der Bürokratie ausgesetzt und auf ungünstigen Baugrundstücken, umgeben von Backsteinhäusern, in der Regel mit unzureichendem Budget errichtet. Die Smithsons entwickelten eine widerwillige Bewunderung für die Art und Weise, wie die "von Spekulanten erbauten Häuser dieser Gegend das Maximum an prahlerischer Wirkung aus dem armseligen Bestand an Symbolen der gesellschaftlichen Stellung herausholten, was mit wirtschaftlich tragbaren Baustoffen, in der Hauptsachen Backstein und Holz, erreicht werden konnte."
Das waren die Kräfte, die am Werke waren, und denen es galt die rauhe Poesie zu entreissen.
Ein zeitgenössischer Kommentar lautete: "Das Haus in Watford, Hertfordshire ... ist ein scheussliches Werk architektonischer Unwissenheit in Grundriss, Konstruktion und äusserer Erscheinung".

Der holländische Architekt Jaap Bakema bebilderte 1960 einen Artikel in der Zeitschrift Forum über die Siedlung Spangen (1920 Michael Brinkmann) mit einem Schnappschuss, der Kinder auf einer Beton-Galerie, und im Hintergrund ihre Mutter Brot an einem Bäckerwagen kaufend, zeigten. In den Projekten von van den Broek und Bakema wurde dieser Bäckerwagen auf der Galerie ein Standardelement (1962 Wohnprojekt Amsterdam). Er bewies sozusagen die Anwesenheit eines gewöhnlichen aber funktionierenden Gemeinschaftslebens. In England war es hingegen der Milchmann, der diese Rolle übernahm, die Strasse als Ort zu definieren, ohne ein Auto zu sein. Kinder sowieso.
Es entwickelte sich eine Debatte um städtisches Leben, und welche Rolle sogenannte Street-Decks darin spielen.
Die Smithsons: "Why for ever going up and down and along and up again when we could all live on a quiet street-deck for pedestrians, young children, milkmen's trolleys and prams?"

Golden Lane housing Competition 1951-1952
Corbusiers „Rue interieur“ wurde ersetzt durch "Streets in the air".
Der Kontakt der Smithsons zu Hendersons, die im East End soziologische Studien zur Strassenkultur arbeiteten.
Netzwerk, das die bestehende Stadt überlagert. Eine neue Schicht über die zerbombte Stadt. Die Ausdehnung der Gebäude wurde nicht mehr durch ein geometrisches Raster, sondern durch die Topografie des spezifischen Ortes, durch den "Kontext" strukturiert.

1958 Apartmenthaus Harumi, Kunio Maekawa, Tokyo.
N. Kawazoe : "Es scheint mir, dass trocknende Windeln ein Zeichen für Leben und Kraft darstellen, und falls das Gebäude merkwürdig aussieht, wenn es damit verziert ist, so ist es fehlerhaft. Ein Apartmenthaus sollte diese Äusserungen menschlichen Lebens hinnehmen können. Wenn es das nicht kann, ist es ein schlechtes Bauwerk...". Weiter über die "in der Luft hängenden Strassen": "Hier können Kinder spielen oder Dreirad fahren, wie sie es auf dem Bürgersteig in anderen Bezirken dürfen. Hier können die jugendlichen Gangster nachts zum Kummer der Bewohner umherstrolchen. (...) Ein Gebäude gehört den Bewohnern nicht, wenn es nicht fähig ist, die zweifelhaften Seiten des Lebens ebenso zu absorbieren wie die erfreulichen."

Park Hill
1953 stellte der Hausarchitekt der Stadtverwaltung Sheffield, Lewis Womersley, die völlig unerfahrenen jungen Architekten Jack Lynn und Ivor Smith ein. Lynn hatte als Student 1952 wie die Smithsons an der Golden Lane Housing Competition teilgenommen und dafür ebenfalls ein "street in the sky" oder in Planer-Englisch "deck-access housing"-Prinzip entwickelt, während Smith an der AA studierte, wo diese Konzepte ebenfalls kursierten. Die beiden Freunde arbeiteten dann gemeinsam für eine Kleinstadt an einem deck-access-project, bis der ambitionierte Architekt Womersley die hoffnungsvollen Talente und ihre grosse Idee für seine Verjüngungskur für Sheffield einzusetzen plante. Zunächst sollten sie eine Wohnsiedlung für Norfolk Park entwickeln, und sie überzogen mit ihren Deck-Access-Erschliessungswegen spinnenartig verdreht den Hügel. Dann rückten durch einen Wechsel in der Subventionspolitik der Regierung die Räumung von Slums in den Blickwinkel der Planer. Da Norfolk Park damit für Jahre auf Eis gelegt war, wurden Lynn und Smith auf ein Gebiet angesetzt, in dem Sheffield schon seit den 20er Jahren versucht hatte, die Slums und die andauernde Kriminalität zu beseitigen. Hier war Sheffields Bethnal Green (Henderson). Es hatte eine gruselige Geschichte mit Gewalt und Bandenkriegen aufzuweisen, es gab ein enges gemeinschaftliches Leben und grosse Armut. Es war das berüchtigste Elendsviertel der Stadt und sollte aus soziologischen Gründen komplett abgerissen werden. Bald darauf hatten die beiden für das gesamte Gebiet eine Deck-Access-Planung erarbeitet. Da die Sache ihnen zu gigantisch erschien, als dass sie die Stadtverwaltung als Ganzes hätte verdauen können, unterteilten sie das Gebiet in Park Hill und Hyde Park. Auf Park Hill, das zuerst bebaut werden sollte, verteilten sie in abgeknickten, verknüpften Bändern fast 1000 Wohneinheiten, einige Kneipen, Shops, eine Grundschule und eine Krankenschwesternschule. Wegen des abschüssigen Geländes variierten die Bänder zwischen vier und dreizehn Geschossen. So konnte die Bebauung an ihrer niedrigen Seite den Massstab der Altstadt respektieren und sich im Tal zu respektabler Höhe auftürmen. So endeten auch drei der vier Erschliessungsebenen ebenerdig.
Diese Planung wurde mit der taktischen Unterstützung von Womersley dem Stadtrat angedreht. Der erste Trick der Architekten war, den Finanzverwalter der Stadt nach Marseille zu Corbusiers Unité zu fahren, um ihm aufzuzeigen, wie aufregend Geschosswohnungsbau sein kann und dass es funktioniert. Dann wurde im Dezember der staatliche Wohnungsbauminister nach Sheffield gelockt. Dieser teilte der lokalen Presse, nachdem er das Modell gesehen hatte, mit, dass Park Hill die Bewunderung der ganzen Welt auf sich ziehen würde. Schliesslich unternahm Womersley noch mit den drei wichtigsten Ratsherren und dem Chef der Bauabteilung eine Rundreise zu anderen europäischen neueren Wohnbauprojekten und machte sie so zu Evangelisten des Geschosswohnungsbaus.
1955 wurden die Gelder bewilligt. Der Ingenieur Ron Jenkins, dem die Smithsons 1952 das Büro gestalteten, ein Künstler, weitere Architekten und einige Zeichner wurden hinzugezogen, und nach der Räumung des Gebietes 1957 wurde bis 1961 gebaut. Es entstand das damals grösste ausgefeilte Erschliessungsdecksystem mit 3,65 m breiten Strassen, alle 3 Stockwerke. So konsequent, dass selbst Erdgeschossbewohner gezwungen waren, ihre Wohnung über die Ebene der ersten Etage zu erschliessen. Bald nach der Eröffnung wurden einige spielende Kinder und ein Milchmann fotografiert.



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